Grundstruktur und Verlauf des Orkantiefs „Kyrill“ vom 18.Januar 2007

 


 

Zwischen zwei steuernden Zentren niedrigen Geopotenzials südlich Grönlands sowie über Skandinavien und einer kräftigen Hochzelle mit Zentrum über Südwesteuropa bzw dem Seegebiet westlich der Iberischen Halbinsel formierte sich eine ausgeprägte und stramme Frontalzone mit diffluentem Ausgang über Mitteleuropa. Dabei lässt sich zum Mittag des 18.Januar 2007 ein Randtrog im 500 hPa-Level (ca. 5500 Meter ü.NN.) ausmachen.

 

 

Die absolute Topografie der 850 hPa-Fläche, das sind etwa 1500 Meter ü.NN. Diese Höhenschicht ist ein gutes Maß für die Verhältnisse oberhalb der planetarischen Grenzschicht. Hier wurden im Bereich des zu „Kyrill“ gehörenden Randtroges Höhenwinde bis 90 Knoten gemessen, was durchaus als eindrucksvoll einzuordnen ist.

 

Schauen wir uns einmal die Prognose (hier das LM-Modell) einen Tag zuvor im Gitterpunkt Osnabrück. Die rote Linie markiert den Verlauf der Temperatur im 850 hPa-Niveau während der Passage von „Kyrill“. Zur Mittagszeit vorderseitig des Systems eine massive Advektion von Warmluft. Während dieser Phase bereits 90 Knoten Windmittel in 850 hPa. Es war anzunehmen, dass die stärksten Winde am Erdboden dann jedoch nicht im Warmluftbereich von „Kyrill“ auftreten würden, sondern dann, wenn die Kaltluftadvektion im frontalen Bereich einsetzt. Man erkennt hier in der Simulation selbst ab dem späten Nachmittag des 18.01.2007 beim berechneten Rückgang der 850 hPa (auch 500 hPa)-Temperatur noch Mittelwinde dort bis fast 80 Knoten.

 


 

Chronologie:


Die Lage in der Frühe um 7 Uhr. Dipolartig liegt das Zentrum von Kyrill über Nord-Irland sowie nordwestlich davon über dem Nordatlantik. Noch liegt Deutschland auf der eher noch gemäßigten Vorderseite unter kräftiger Warmluftadvektion oberhalb der Grundschicht. Über dem Ärmelkanal sowie dem Süden Großbritanniens verschärfte sich der Druckgradient jedoch zusehends.  Das war auch die Zeit als ich zuhause nach der ersten Tasse Tee begann, den Balkon leer zu räumen. In Stuttgart war es bereits reichlich windig, jedoch noch sehr moderat mit Böen zwischen Stärke 5 und 7.

 

Entsprechende Warnungen für ganz Deutschland waren bereits veröffentlicht für den Tag btw für die kommende Nacht. Der Schwerpunkt des Geschehens war dabei insgesamt eher für den Norden, die Mitte und den Osten Deutschlands zu erwarten,  der Süden jedoch nur geringfügig „lauer“. Die Höhenwinde waren zwar auch im Süden ungewöhnlich rasant, doch die Frage war eher,  wie sich die Kaltfront verhält. Die Modellberechnungen deuteten an, dass der Süden zwar in die Nähe der Front gelangen würde, diese aber dann infolge einer ostatlantischen Wellenbildung wieder rückläufig werden würde und Süddeutschland erst gar nicht  überquert.


Interessant übrigens in diesem Zusammenhang im Wetterforum ein Beitrag von Christoph Gatzen, der zwar ohne Kommentar blieb und im Getümmel zahlreicher Meldungen unterging. Er wies auf die Möglichkeit einer linienhaften Entwicklung im frontalen Bereich hin:
http://www.wetterzentrale.com/cgi-bin/webbbs/wzarchive.pl?read=1057886

Die Mittagszeit: Deutschland im Warmsektorbereich, doch das Übergreifen der Kaltfront auf Niedersachsen und die Nordseeküste stand bevor.

 

Satbild (VIS) zur selben Zeit:

 

Ich habe hier zum 12-UTC-Termin mal die Isothermen (Linien gleicher Temperatur) im 500 hPa-Level (ca.5500 Meter) eingezeichnet. Man sieht ziemlich eindrücklich die Zufuhr von massiver Warmluft über fast ganz Deutschland, wenn man mal vom äußersten Nordwesten absieht, dort ist der Scheitelpunkt des Frontengebildes recht nah (siehe obige Karte). Mit etwa 965 hPa Kerndruck hatte Kyrill nun eine fast achsensenkrechte Lage und war nahe am Zenit seiner Entwicklungsmöglichkeiten.

Hier zwei Radiosondendiagramme aus dem Bereich des Warmsektors. Erstes Beispiel ist Stuttgart mit dem bis an die Tropopause hin wasserdampfgesättigten Verlauf. Die Schichtung im Warmsektorbereich stabil aufgrund der massiven Warmluftadvektion oberhalb der planetarischen Grundschicht. Die Höhenwinde sind natürlich auch beachtlich.

 

Ein ähnliches Beispiel zeigt dieses Diagramm vom mittaglichen Radiosondenaufstieg an der Station in Meinungen:

 

Die Kaltfront erreicht Deutschland


Am frühen Nachmittag kam es dann zum Übergreifen der Kaltfront nach Mitteleuropa. Im folgenden Satbild von 16 Uhr zeigt sich der Kern von „Kyrill“ gerade bereits ganz knapp östlich von Dänemark. Hier hatte die Zyklogenese ihren Höhepunkt erreicht. Die Kaltfront erkennt man verlaufend quer über Niedersachsen:

 

Imposant das Wasserdampfbild. Kern und Kaltfront sind gut erkennbar, wie auch die Dry intrusion. Die dry intrusion (auch „dry slot“ genannt) ist ein Band, innerhalb welchen sehr trockene Luft aus dem Tropopausenbereich (bzw gar Bereiche der untersten Stratosphäre) in niedriger gelegene Luftschichten befördert werden (Absinken).

 

Inzwischen entwickelte sich im Frontalbereich eine ausgeprägte Linienstruktur (siehe guten Hinweisbeitrag von Christoph Gatzen) mit der Genese einer Gewitterfront, an der an etlichen Orten sehr heftige Unwetterböen zustande gekommen sind.

Hier die Blitzkarte (DWD) von 15:30 Uhr:

Die Lage der Kaltfront konnte man nun schon gut an den Blitzortungen ausmachen. Gegen kurz vor 17 Uhr hatte die Kaltfront mit orkanartigen Böen und Orkanböen weite Teile Niedersachsens überquert und erreichte nun NRW und MeckPomm.


Die ganze frontale Struktur im Radar (Quelle:
www.wetterspiegel.de). Die Kaltfront ist die dünne langgestreckte Linie mit den starken bis sehr starken (Legende) Radarreflektivitäten.

 

Blitzentladungen etwa zu selbiger Zeit. Eine für diese Jahreszeit doch ungewöhnliche Blitzaktivität:

 

Die Lage um 19 Uhr: Die Kaltfront hatte zusammen mit der zugehörigen Gewitterlinie den Osten Deutschlands erfasst. Das Vorankommen der Front nach Süden wurde allerdings inzwischen bereits sichtlich gebremst, was einerseits an der raschen Ostwärtsbewegung des Tiefs lag, jedoch auch an der Wellenbildung südwestlich von Irland.

 

Das rasche Vorankommen in Richtung östliches Mitteleuropa bewirkte im Laufe der Abendstunden dann natürlich auch ein merkliches Nachlassen der Wetteraktivität an der Front an ihren westlichsten Bereichen. Hier eine Radardarstellung (Quelle: www.wetterspiegel.de) von 20:30 Uhr MEZ:

 

Sachsen hatte „es“ noch vor sich, die Gewitter an der Front beschränkten sich inzwischen auf die äußerste Osthälfte (Ausnahme: Blitze bei nachfolgenden isolierten Schauerzonen). Das belegen auch die Blitzortungen auf folgender Karte

 

Der Abend:


Auch in Stuttgart bei mir war nun der Höhepunkt erreicht. Die stärksten Böen wurden kurz vor Mitternacht gemessen mit 107 km/h auf dem Stuttgarter Schnarrenberg. Just zu dem Zeitpunkt wo die Kaltfront, welche sich ja im Westzipfel zunehmend in ihre Bestandteile auflöste, am nächsten war. Das war ansich auch so erwartet. Im Satbild von Mitternacht sieht man gut, wie die Kaltfront über dem westlichen Mitteleuropa wieder rückläufig wird.

 


 

Die Windspitzen in Deutschland vom 18/19.Januar 2007 in km/h:
202 10980 Wendelstein
198 10453 Brocken
183 10961 Zugspitze
183 10578 Fichtelberg
172 10544 Wasserkuppe
169 10791 Großer Arber
165 10908 Feldberg/Schwarzwald
161 10962 Hohenpeißenberg
161 10724 Weinbiet
144 10460 Artern
144 10400 Düsseldorf
141 10044 Kiel/Leuchtturm
141 10564 Schleiz
137 10895 Fürstenzell
137 10982 Chieming
137 10875 Muehldorf
137 10454 Wernigerode
137 10582 Zinnwald-Georgenfeld
137 10427 Kahler Asten
133 10836 Stötten
133 10161 Boltenhagen
133 10577 Chemnitz
130 10128 Wilhelmshaven
130 10020 List/Sylt
130 10818 Klippeneck
130 10042 Olpenitz
130 10513 Köln/Bonn-Flughafen
130 10574 Carlsfeld
128 10774 Regensburg
126 10381 Berlin-Dahlem
126 10743 Niederstetten
126 10496 Cottbus
126 10376 Baruth
126 10124 LT Alte Weser
126 10460 Artern
126 10317 Osnabrück
126 10418 Lüdenscheid
126 10028 St.Peter-Ording
122 10532 Giessen
122 10170 Rostock-Warnemünde
122 10546 Kaltennordheim
122 10506 Barweiler
122 10655 Würzburg
122 10055 Westermarkelsdorf
122 10313 Münster
122 10452 Braunlage
122 10564 Schleiz
122 10488 Dresden-Flughafen
122 10502 Nörvenich
119 10393 Lindenberg
119 10449 Leinefelde
119 10305 Lingen
119 10870 München
119 10501 Aachen
119 10554 Erfurt-Flughafen
119 10382 Berlin-Tegel

 


 

Zahlreiche weitere Infos zum Orkan „Kyrill“ findet man auf der Seite von Thomas Sävert: http://www.saevert.de/2kyrill.htm .

 


 


Ich habe mich in dieser Nachbetrachtung hauptsächlich das Augenmerk auf die fachliche Chronologie gelegt. Dieses Ereignis, welches man hinsichtlich Verlauf und Struktur durchaus mit dem 27.10.2002 vergleichen kann, als das Sturmfeld von „Jeanett“ über Deutschland hinwegzog, ist natürlich als eines der markanten Wettergeschehnisse der letzten Jahre zu betrachten. Zwar kann man in keiner Hinsicht das Tief „Kyrill“ einem Orkan wie Lothar (26.12.1999) vergleichen, dennoch waren die Auswirkungen immens. Durch „Kyrill“ kamen europaweit über 40 Menschen ums Leben, es gab zahlreiche Sachschäden und Stromausfälle. 
 

Ich denke, es wird von anderen Interessierten noch weitere Nachbetrachtungen zu „Kyrill“ geben, die dieses Ereignis wieder von einer anderen Seite beleuchten. Ich hoffe meine Ausführungen waren kurzweilig. :-)

 

 

Marco Puckert, 7.02.2007