Nachbetrachtung der Schwergewitterlage vom 10. Juni 2004


Synoptische Situation

Die Großwetterlage war bereits am Vortag schon gekennzeichnet von einem Höhenkeil, mit dem vor allem in den Süden und in die Mitte Deutschlands sehr warme Luft herangeführt wurde. Allerdings, wie auf folgender Karte ersichtlich, kam die Frontalzone vor allem dem Norden des Landes immer näher. So konnten Tröge, die um den Keil herumgeführt wurden, Deutschland erfassen. Die erste Randstörung erreichte am Morgen des Vortages bereits Schleswig-Holstein bzw. Niedersachsen und zog mit teils heftigen Gewittern (trotz der etwas ungewöhnlichen Tageszeit) Richtung Ostdeutschland. In der Mitte und im Süden gab es nur einzelne Gewitter am 9.Juni 2004 und der Wettercharakter war weitgehend hochsommerlich.

Bis zum Mittag des 10. Juni war dann die Achse des Höhenkeiles dann bereits östlich von Deutschland:

500 hPa und Bodendruck 12 UTC

Mit dem ersten Randtrog, der am Vortag über Nord- und Ostdeutschland die starken Gewitter brachte, hatte Deutschland ein Frontensystem erfasst, das bis zum Mittag des 10. Juni die Nordhälfte weitgehend überquert hatte. Seine Kaltfront jedoch verlief fast strömungsparalell und wellend über der nördlichen Mitte Deutschlands und bewegte sich darum auch nur langsam südwärts. Sie trennte labilgeschichtete und sehr warme Luft im Süden von etwas stabilerer und kühlerer Luft nördlich davon. Hier eine Bodenanalyse von 12 UTC:

Bodenwetterkarte 12 UTC

Der Radiosondenaufstieg vom selben Termin (12 UTC) zeigt labile Schichtung bis zum "Gleichgewichtsniveau" in ca. 180 hPa. Das Gleichgewichtsniveau ist übrigens die Höhe, ab der ein aufsteigendes Paket nicht mehr wärmer als die Umgebungsluft ist Das sieht man am Schnittpunkt der vom Kondensationsniveau ausgehenden Feuchtadiabate (hier bei ca. 890 hPa) mit der weißen Temperaturkurve. Beim Erreichen des Gleichgewichtsniveaus (Equilibrium Level) wird das Luftpaket gebremst und fällt wieder nach unten. Lediglich bei starken Aufwindzonen kann dann ein Luftpaket noch etwas über dieses "Gleichgewichtsniveau" aufsteigen. Das wären dann die "Overshooting Tops".

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Der Stuttgarter Radiosondenaufstieg jedenfalls zeigte genügend Feuchte, eine große Labilität bis in große Höhen. Nennenswerte Hebung rechneten die Modelle (auch infolge des fortschreitenden Herannahen des korrespondierenden Langwellentroges) im Bereich der Front über der Mitte Deutschlands sowie über dem aufgeheizten Süden, so dass in diesen Gebieten die Bildung von starken Gewittern anzunehmen war. Unter anderem auch für den Gitterpunkt Stuttgart wurden (siehe als Beispiel das angefügte GME-Meteogramm) für den Nachmittag und Spätnachmittags reichlich Gewitter simuliert.

Das erneute Aufleben der Schauer- und Gewittertätigkeit, das für die darauffolgende Nacht erfolgen sollte, war mit dem langsamen Durchschschwenken der Kaltfront begründet. Somit war anzunehmen, dass die Gewitter am Nachmittag in der Warmluft subtropischen Ursprungs vor der Kaltfront entstehen würden (präfrontal).

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Zum Mittagstermin sieht man in der 850 hPa-Analyse die Zweiteilung der Luftmassen über Deutschland. Während im frontrückseitigen Bereich Norddeutschlands bereits die kühlere Atlantikluft wirksam ist, liegt die Mitte im Grenzbereich der verschiedenen Luftmassen und der Süden noch im hochsommerlichen Niveau bei 850 hPa-Temperaturen über 15 Grad:

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Die ersten Schwergewitter des Nachmittags

Die Situation nachmittags um 13 UTC (15 MESZ): Im trognahen Bereich der Front haben sich über Rheinland-Pfalz und Hessen erste zusammenhängende Gewitterherde entwickelt, während im aufgeheizten Bayern und Baden-Württemberg bislang nur einzelne Zellen gebildet hatten.

Die folgende Karte zeigt die Bodenwinde um 13 UTC und die Blitze der letzten 12 Minuten. Mit Pfeilen habe ich ein Gewitterherd über der Pfalz markiert. Eindrucksvoll zeigen die Windpfeile eindeutig eine zyklonale Rotation um den Gewitterherd. Hierbei ist eine Superzelle anzunehmen, die sich in diesem Gebiet gebildet hat.

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Im Radar sind die Echos sehr schön etwas südlich von Bingen zu erkennen. Sie erreichten höchste Reflektivitätsstufen im Radar. Kleinere Einzelzellen bildeten sich immer wieder auch weiter südlich und zogen mit der Höhenströmung relativ rasch ostwärts.

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Hier noch das zugehörige Sat-Bild von 13 UTC. Die Bildung eines Mesoskaligen konvektiven Systems kam im Bereich der Kaltfront in Gange, zuerst betroffen Rheinland Pfalz und das südwestliche Hessen. Man erkennt eindrucksvoll die kalten Oberflächentemperaturen an den besonders hellen Klecksen im Infrarotbereich:

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Im Bereich dieses MCS kam es auf kleinstem Raum zu sehr großen Temperaturgegensätzen. Mit den Kaltluftausflüssen aus den Gewittern und der Verdunstungsabkühlung kam es im Frontbereich großflächig zu einer markanten Abkühlung teils bis an die Taupunktbereiche, während südlich davon über Baden-Württemberg und der Südpfalz die Temperaturen noch zwischen 27 und 32 Grad lagen im Tiefland:

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In der Folge bewegte sich die Front mit teils kräftigen, ostwärtsziehenden Gewittern langsam südwärts. Hier die Temperaturverteilung um 15 UTC (17 Uhr):

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Sehr eindrucksvoll ist an den Bodenwinden die Lage der Bodenkaltfront zu sehen mit dem großräumigen Windsprung von Südwest auf Nordwest bis Nord und den damit verbundenen Gewittern. Hier das zugehörige Radar von 14:40 UTC (16:40 MESZ).

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Quelle des Radarbildes: http://radar-info.fzk.de/frei.html

Zu dieser Zeit waren die stärksten Reflektivitäten über der Südpfalz sowie dem Grenzbereich Baden-Württemberg/Hessen angekommen. Über dem Odenwald erkennt man auf der folgenden Radardarstellung eine recht gefährliche Zelle (siehe Pfeil), bei der es zu beträchtlichen Waldschäden gekommen ist. Folgendes Foto entstand einige Tage nach dem Unwetter etwa 8 Kilometer nordöstlich von Eberbach zwischen Friedrichsdorf und Hebstahl im Odenwald:

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Quelle: http://www.wetteran.de

Die schneisenartig aberissenen Bäume lassen erahnen, was hier los gewesen sein muss. Die Schäden, die sich hier zeigen lassen auf schwere Fallböen oder auf einen Tornado schließen, der hier möglicherweise gewütet hat.

 


Hier ein ausführlicher Bericht zu diesem Odenwald-Ereignis von Felix Welzenbach: 

http://www.wetteran.de/html/todenwald.html 


 

Die Kaltfront macht sich selbstständig

Im weiteren Verlauf stellte sich eine hochinteressante Entwicklung ein. Aus der Kaltfront mit den Gewitterzentren (Mesoskaliges konvektives System, MCS) floss reichlich Kaltluft aus großen Höhen zu Boden, die im Verlauf des Nachmittages dann eine eigenständige Kaltfront generierte, die dem MCS südwärts vorauseilte. So gab es eine trockene Böenlinie, die etwa gegen 16 UTC bereits Stuttgart erreicht hatte. Nur sehr langsam hingegen bewegte sich das weiterhin mit Schwergewittern durchsetzte Niederschlagsgebiet Richtung Baden-Württemberg und Bayern.

Zur Veranschaulichung folgende Karte mit den Bodenwinfiedern und den Blitzen der letzten 12 Minuten um 16 UTC (18 Uhr MESZ). Die Squall-Line mit dem Nordwind eilt der Gewitteraktivität deutlich voraus und lag zu diesem Zeitpunkt bereits entlang der Linie Karlsruhe-Stuttgart-Ulm.

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Diese vorlaufende Böenlinie sollte für die Entwicklung des süddeutschen Wetters in den Abendstunden von großer Bedeutung sein. Dazu aber etwas weiter unten.

Gegen 19 Uhr wurde ich Zeuge einer Neubildung direkt über der Stuttgarter Innenstadt. Zu sehen waren zunächst nur dunkle ballenartige Untergrenzen, die den Himmel schemenhaft werden ließen. Erneut ein kräftiger Nordwind, der zeitweilig auf Ost drehte. Ich denke im Nachhinein, es wird sich hierbei wohl um einen Sog (inflow) in die entstehende Gewitterzelle gehandelt haben. Fallstreifen oder Niederschlagsvorhänge waren zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht erkennbar, auch keine Wolkentops. So war also anfangs schwer zu ahnen, dass sich direkt über der Stadt ein Gewitter bildete, allein schon wegen des schemenhaft wirkenden Himmels und des kräftigen Ostwindes. Alsbald öffnete der Himmel dann jedoch über der Weststadt seine Schleusen und innerhalb weniger Minuten verschwand die selbige unter einem Niederschlagsvorhang. Von der Straßenbahn aus verfolgte ich das frisch entstandene Spektakel. Im Innenstadtbereich herrschten praktisch White-Out-Verhältnisse, garniert mit einigen Blitz-Naheinschlägen.

Hier kann man die Stuttgarter Zelle sehr gut im Radar von 16:50 UTC erkennen:

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Folgendes Satbild entstand kurz nach 17 UTC (19 MESZ). Die Stuttgarter Zelle ist zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich ostnordostwärts weitergezogen. Man sieht in in diesem VIS-Bild eindrucksvoll die Quellstruktur der neu entshenden Gewitter über Baden-Württemberg, Nordbayern, Tschechien und Frankreich. MCS-Komplexe befinden sich nördlich davon. Schön zu sehen, wie hierbei Overshooting Tops (Aufwinde von eingelagerten Gewittern, die über das Gleichgewichtsniveau [EL] hinausschießen) die Gewitterzellen markieren.

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Wie begonnen - so zerronnen

Nun wurde es langsam Abend. Hierbei ist ein Blick auf die Bodenwinde um 19 UTC sinnvoll. Inzwischen herrscht südlich der Gewitteraktivitäten in den MCS mit Ausnahme des äußersten Südens von Baden-Württemberg und Bayern eine nördliche Windkomponente. Die MCS-Systeme sind dagegen nur noch sehr wenig und träge nach Süden vorangekommen. Mit dem Nordwind und der einhergehenden Abkühlung hatte nun eine Stabilisierung der untersten Luftschichten eingesetzt und bei nachlassender Sonnenstrahlung war den Einzelzellenbildungen im Vorfeld der Gewitterkomplexe der Stöpsel gezogen.

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Nachdem die Böenfront mit dem Windsprung von Südwest auf Nord im Laufe des Spätnachmittages in tiefen Luftschichten die Rolle der Kaltfront übernommen hatte, wurde diese zum Abendtermin bereits knapp vor den Alpen analysiert. Der Frontdurchgang verlief so südlich der Donau bis hin zu den Alpen an vielen Orten trocken.

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Ein Blick auf die 850 hPa-Fläche zeigt, wie niedertroposphärisch diese Abkühlung in Baden-Württemberg und Bayern von statten ging. Das Temperaturniveau im 850 hPa-Niveau ist kaum verändert gegenüber dem Mittagstermin. Weiterhin befindet sich über der bodennah eingeflossenen kühleren Luft eine Luftmasse subtropischen Ursprungs.

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Zur weiteren Veranschaulichung der nächtliche Radiosondenaufstieg aus Sigmaringen. Man erkennt zweifelsfrei unterhalb 880 hPa die bodennahe Winddrehung auf Nordwest bis Nord und den "kalten Fuß" im Temperaturverlauf nach unten. Aufgrund der Bewölkung die herrschte, handelt es sich mitnichten um eine Bodeninversion durch nächtliche Ausstrahlung.

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Gegen Mitternacht hatte sich das ehemalige MCS zum Regengebiet mit schauerartig verstärktem und örtlich noch gewittrigen Regen abgeschwächt und driftete langsam südwärts. Auf dem Mitternachts-IR-Bild von Meteosat ist die Struktur des ehemaligen mesoskaligen konvektiven Systems verwaschen, oft handelt es sich über Mitteleuropa nur noch um dichte Cirren, die sich hier abbilden. Reste von Gewittern zogen in dieser Nacht noch von den Vogesen her in den Südbadener Raum, lösten sich dann jedoch auf.

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Das eingangs in dieser Nachbetrachtung gezeigte GME-Meteogramm, auch das Modell des amerikanischen Wetterdienstes hatte die Entwicklung dieses 10.Juni 2004 für die Mitte und den Süden soweit gut simuliert. Dass jedoch eine der anfangs angenommen Kaltfront vorauseilenden Böenlinie entstehen würde, die die Rolle der eigentlichen Kaltfront übernimmt und in der Südhälfte von Baden-Württemberg und Bayern die Atmosphäre niedertroposphärisch stabilisieren würde, war ein meteorologisches Detail, dass schwer im Voraus zu deuten war. Hier trat einmal mehr eine Situation ein, die eigentlich nur im Nowcastingbereich richtig zu erfassen ist.

Ebenso die überaus schweren Superzellengewitter, die an diesem Tag Teile des Odenwaldes, aber aber auch andere Orte vor allem der Mitte Deutschlands getroffen haben, sind Ereignisse die im Detail nur im Kürtestfristbereich vorherzusagen waren. Freilich war die große Schwergewittergefahr schon am Vormittag vorhergesehen (siehe Anfangsteil dieser Nachbetrachtung), doch diese Aussagen sind zu diesem Zeitpunkt noch grob zu formulieren gewesen.

Marco Puckert, 25.06.2004